>>21987229in yerman:
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Mit meiner Verurteilung des Christentums möchte ich kein Unrecht gegen eine verwandte Religion begangen haben, die der Zahl der Bekenner nach sogar überwiegt: gegen den Buddhismus. Beide gehören als nihilistische Religionen zusammen—sie sind décadence-Religionen—, beide sind von einander in der merkwürdigsten Weise getrennt. Dass man sie jetzt vergleichen kann, dafür ist der Kritiker des Christentums den indischen Gelehrten tief dankbar.— Der Buddhismus ist hundert Mal realistischer als das Christentum,—er hat die Erbschaft des objektiven und kühlen Probleme-Stellens im Leibe, er kommt nach einer Hunderte von Jahren dauernden philosophischen Bewegung; der Begriff "Gott" ist bereits abgetan, als er kommt. Der Buddhismus ist die einzige eigentlich positivistische Religion, die uns die Geschichte zeigt, auch noch in seiner Erkenntnistheorie (einem strengen Phänomenalismus—), er sagt nicht mehr "Kampf gegen die Sünde," sondern, ganz der Wirklichkeit das Recht gebend, "Kampf gegen das Leiden." Er hat—dies unterscheidet ihn tief vom Christentum—die Selbst-Betrügerei der Moral-Begriffe bereits hinter sich,—er steht, in meiner Sprache geredet, jenseits von Gut und Böse.— Die zwei physiologischen Tatsachen, auf denen er ruht und die er ins Auge fasst, sind: einmal eine übergrosse Reizbarkeit der Sensibilität, welche sich als raffinierte Schmerzfähigkeit ausdrückt, sodann eine Übergeistigung, ein allzulanges Leben in Begriffen und logischen Prozeduren, unter dem der Person-Instinkt zum Vorteil des "Unpersönlichen" Schaden genommen hat (—beides Zustände, die wenigstens einige meiner Leser, die "Objektiven," gleich mir selbst, aus Erfahrung kennen werden).